Jürgen saß im Zug und fuhr zu seinen Eltern. Das tat er zwei Mal im Monat und zwar aus ganz einfachem Grund: Wie schon seit vielen Jahren, seit er zu Hause ausgezogen war, brachte er seine dreckige Wäsche mit, um sie von seiner Mutter waschen und bügeln zu lassen. Mittlerweile war Jürgen 38, doch von Selbstständigkeit hielt er nicht allzu viel.
Gegenüber von ihm quetschte sich eine dicke Frau in ihren Sitz. Es sah wirklich absurd aus, wie sie versuchte ihr üppiges Gesäß zwischen den Armlehnen unterzubringen. Jürgen lachte, er konnte nichts dafür – das Lachen platzte aus ihm heraus und genauso seine nächsten Worte: „Da hätten Sie mal besser zwei Sitze reservieren sollen, ne?“
Die Frau, etwas beschämt, wurde rot. „Was geht Sie das denn an, wie viele Sitze ich brauche?“
Jürgen zog nur die Augenbrauen hoch und drehte abwehrend die Handflächen nach oben. Er hatte nichts gesagt. Er fand es unmöglich, wie wenig manche Frauen auf ihren Körper achteten. Wusste sie denn, wie das aussah? Wusste sie denn, was für einem Anblick er sich aussetzen musste?
Er nuschelte „Also schön ist das nicht gerade …“
– „Glauben Sie denn, Sie sehen besser aus?“
Wie zickig war die denn drauf, schoss es ihm durch den Kopf, die hatte wohl ihre Tage …
Und was für eine dumme Frage. Natürlich glaubte er, dass er besser aus, denn das entsprach der Wirklichkeit. Er war vielleicht kein Adonis, aber im Großen und Ganzen doch ein attraktiver Kerl. Wahrscheinlich hatte sie das gesagt, weil sie wusste, dass sie nie einen wie ihn bekommen würde. Er betrachtete seine Spieglung im Zugfenster. Gut, er hatte ein kleines Doppelkinn. Früher hatte er sich Gedanken deswegen gemacht, aber irgendwann hatte er beschlossen, dass es doch eher süß war – schließlich verlieh es seinem männlichen Gesicht etwas Kindliches. Naja, markant war sein Gesicht nicht gerade mit den hängenden Wangen und der unerwartet spitzen Nase … aber was sollten diese Gedanken? Schließlich war er ein Mann und Männer mussten nicht schön sein. Attraktive Männer waren vielleicht sportlich und stark, aber nicht schön.
Und selbst das. Damals in der Schule, als er für seine Unsportlichkeit gehänselt wurde, hatte seine Mutter zu ihm gesagt, dass es nur auf die inneren Werte ankäme. Er erinnerte sich sogar genau an den Tag, als dieser Satz für ihn an Relevanz gewonnen hatte … Er hatte sich im Sportunterricht beim Kugelstoßen mit ganzer Kraft die Kugel auf den eigenen Fuß geworfen, sodass ihm später der Zehennagel abgefallen war. Es hatte wahnsinnig weh getan. Selbst der Sportlehrer hatte sich irgendwann geweigert, ihn weiter teilnehmen zu lassen, nachdem Jürgen beim Speerwerfen fast jemanden ermordert und beim Weitsprung sich das Fußgelenk gebrochen hatte. Gut, Leichtathletik war einfach nicht seine Stärke gewesen, was umso erstaunlicher war – da er eigentlich, wenn man es nicht ganz so eng sah, einen ziemlich athletischen Körperbau hatte. Im Laufe seines Lebens war ihm immer deutlicher geworden, wie recht seine Mutter gehabt hatte. Es ging nicht um so etwas, es ging um die inneren Werte und eine gute Ausstrahlung. Und das stimmte bei ihm – zum Beispiel hatte er einen Bauch, also eher einen kleinen Bauchansatz. Aber es passte zu seinem Charakter, er strahlte eine Gemütlichkeit und Genussfähigkeit aus. Das war sehr individuell. Andere Männer hatten einen Waschbrettbauch, wie man es oft in Zeitschriften sah. Natürlich könnte er auch trainieren und so aussehen, wenn er denn wollte. Er wollte nur nicht. Ihm ging es nicht um solche Oberflächlichkeiten. Es ging ihm eher um einen guten Charakter und selbstsicheres Auftreten, eine eigenständige Persönlichkeit. Da hatte seine Mutter ganz recht gehabt …