Die Sonne brannte in der Mittagshitze. Wir standen dicht aneinander gedrängt in den Zuschauerrängen; die meisten lachten und schrien. Die Stimmung, die sich zwischen staubtrockener Luft, Schweiß und tosendem Lärm ausbreitete, war von Anspannung durchdrungen. Alle Augenpaare gingen immer wieder in die Arena und zu dem Bereich, der über dunkle Vorhänge abgrenzt, sich dem Blick des Publikums entzog. Alle warteten auf das kommende Spektakel. Was würde folgen? Was hatte sich verändert?
Das Fest war letztes Jahr ausgesetzt worden und sollte dieses Jahr zum ersten Mal in neuer Form stattfinden. Man hatte beschlossen, das überkommene Ritual an den Zeitgeist anzupassen. Die Jagd durch die engen Gassen der Stadt, in denen der Stier mit spitzen Pfeilen angetrieben wurde, hatte es nicht mehr gegeben. In der Ankündigung hatten sie gesagt, dass nun alles anders war, weniger Gewalt und kaum noch Blut. Trotzdem wurde ein „intensives Erlebnis“ versprochen. Aber was würden sie tun, dass trotz des Verzichts auf das Massaker ein Stierkampf noch mitreißend blieb? Ich platzte vor Spannung.
Ein Quader aus Vorhängen bezeichnete die Mitte der sandigen Arena. Als die Konstruktion zur Seite gezogen wurde, kam eine Kuh zum Vorschein, die an eine Melkmaschine angeschlossen auf dem Boden lag. Ihr Euter war riesig, ihr Körper knochig und abgemagert, die weiße Flüssigkeit wurde in eine Kanne gepumpt. Dort hing ein Schild: Glas Milch 1,00 Euro.
Literweise Milch wurde aus der Kuh gepumpt. Die aufgeheizte Stimmung kühlte sich ab, das Publikum versank in einem lauten Schweigen, das getränkt war von Unzufriedenheit. Wo war das Spektakel? Was sollte diese Scheiße?
Dann geschah eigentlich nichts mehr. Die Zuschauer tauschten murmelnd ihre Beschwerden aus, zwischendurch ein genervtes Stöhnen oder Seufzen. Keiner sprach aus, was alle dachten.
„Was soll das?“, fragte ich meine Begleitung.
„Ich habe keine Ahnung. Ich verstehe überhaupt nichts.“
Die Kuh lag da und tat nichts.
Schließlich betrat der Matador in seinem paillettenbesetzten Kostüm die Arena. Auf seiner linken Handfläche trug er ein Tablett, bedeckt mit einem weißen Tuch. Als er bei der Kuh angekommen war, positionierte er das Tablett auf einem Tischchen.
Er zog das weiße Tuch mit einer eleganten Handbewegung zur Seite und nahm dann mit einer präzisen, sterilen Motorik die Spritze.
Was um Gottes Willen sollte das werden?
Ich sah zu meinem Freund, dieser zog eine Augenbraue nach oben und hielt seinen Blick auf die Darsteller gerichtet. Der Matador nahm die Spritze, stach sie in das schwache, ausgezehrte Tier und sah es dabei an. Ohne ein Aufbäumen, ohne einen Todesschrei, ohne jegliche Dramatik wich dessen Bewusstsein aus diesem Leben. Nichts, es war einfach für nichts. Ein völlig unnötiger Tod; das Publikum zeigte kaum Reaktion. Und wenn, dann sicher kein Beifall, sondern irgendetwas zwischen Unverständnis und Abscheu.
Der Matador stand auf, drehte sich vorbei an den Rängen und verbeugte sich. Aber das Publikum wurde wütend, schimpfte und beleidigte ihn. Manche begannen Gegenstände, wie ihre Sitzkissen oder Getränkebecher vor Enttäuschung in die Arena zu schmeißen. Was sollte das für ein erbärmlicher Kampf gewesen sein?
Dann begann er zu sprechen:
„Hoch verehrtes Publikum,
ich verstehe ihren Unmut. Ich verstehe ihre Langeweile und ihre Enttäuschung.“ Er unterbrach, um einer fliegenden Bierdose auszuweichen. Das Publikum grölte. Dann fuhr er fort „Der Stierkampf ist ein Kulturgut, eine alte Tradition, die vielen Menschen in unserer Gesellschaft sehr wichtig ist. Sie beschreibt in ihrer Jahrhunderte alten, ritualisierten Darstellung ein Verhältnis zwischen Mensch und Natur, das über Jahrtausende geprägt wurde. Sie drückt den Kampf des Menschen gegen die Naturgewalten aus und seine Emanzipation von ihrer Willkür, seinen Sieg. Es ist ein ohne Zweifel ein wichtiges Ritual – aber was tun, wenn sich die zugrunde liegende Realität so radikal verändert, dass das Ritual seines Sinnes entleert wird und zur bloßen Tierquälerei verkommt?“
Er machte eine kurze Pause und ließ seinen Blick durch die Menge schweifen.
„Wir haben das Symbol für die Überlegenheit des Menschen an die heutige Zeit angepasst. Der wilde Kampf ist der gezüchteten, industrialisierten Ausbeutung gewichen, der Matador – als Vertreter der Menschheit – braucht nichts mehr fürchten, da sein Gegenspieler – die Natur – schwach und ausgebeutet am Boden liegt, wie diese Kuh. Mehr Spektakel kann ich Ihnen leider nicht bieten – das ist die Welt, in der wir leben. Der wilde Kampf um Leben und Tod ist vorbei. Der Feind liegt zerstört am Boden und wartet auf seinen Todesstoß. Der, der ihn tätigt, ist kein Held, sondern ein Mörder.“
Er atmete tief ein. „Wenn wir uns vor der Natur ängstigen, dann nur noch vor ihren Viren und Bakterien, vor Hitze und Dürre, vor Insektenplagen. Wenn es noch Momente gibt, in denen das Verhältnis von Mensch und Natur von ergreifender Spannung zeugt, dann nicht im Kampf mit dem einen überlegenen, bedrohlichen Tier, sondern beispielsweise in der Frage, ob die Menschheit nun den Planeten tatsächlich zum Kollabieren bringen oder ob sie vorher durch Seuchen selbst ausgelöscht werden wird? Das sind die lodernden Kämpfe unserer Zeit, meine Damen und Herren!
Und damit ist es bereits gesagt: Freuen Sie sich nun mit uns gemeinsam auf die neue Show, die das zeitgenössische Macht-Verhältnis zwischen Mensch und Natur in all ihrer ausgelaugten Grausamkeit besser und mitreißender denn je veranschaulicht. Sie wird von nun an, im Anschluss an den „Tod des Stierkampfs“ unsere Arenen bespielen. Freuen sie sich mit uns auf eine atemberaubende Inszenierung, die die geballte Dramatik von Heuschreckenplage über Corona-Virus und Wassermangel, auf die Bühne bringt! Werden Sie Zeuge eines neuen Zeitalters!“
Die Menge johlte und klatschte.